

Discover more from cool genug
Ich habe ein Jahr lang einen Newsletter geschrieben, damit ihr es nicht müsst
1000 Jahre cool genug
du liest die ein-jahr-jubiläumsausgabe von cool genug, einem newsletter über digitale kultur.
cool genug genug
Es gab eine Zeit, da waren Newsletter das Medium der Stunde.
Flashback in die späten Monate des Jahres 2020: Donald Trumps Team versucht, vor einem Gartenbau-Rolltor die US-Wahl anzufechten, die Welt genießt das aktuelle Taylor Swift-Album Folklore, nicht ahnend, dass in nur wenigen Wochen ein weiteres erscheinen würde… und einige der einflussreichsten Autoren der US-amerikanischen Medienlandschaft, darunter Matthew Yglesias und Casey Newton auf der hellen Seite kündigen ihre Jobs, um sich mit Substack-Newslettern selbständig zu machen. Es gibt Riesenstorys in der New York Times, Schwärmereien über ein Comeback des Blogging und ein Come-zum-ersten-Mal der journalistischen Selbständigkeit im Internet-Zeitalter.
Dann, wie jeder Nachrichtenzyklus, fällt die Aufmerksamkeit wieder in sich zusammen und wird durch das nächste Trendthema ersetzt. Und zwar: Clubhouse. 🤷♂️
Ziemlich genau in der Atempause zwischen diesen beiden Hype-Zyklen habe ich vor einem Jahr cool genug gestartet. cool genug ist/war ursprünglich ein Versuch, Internet Culture-Journalismus auf Deutsch zu machen, wie er in den USA auch üblich ist. Praktisch jedes große Medienhaus beschäftigt dort eine oder mehrere Journalistinnen (generischer Feminimum, es sind meist junge Frauen), die über TikTok-Trends und Social Media-Verhalten so selbstverständlich berichten wie andere über die Wall Street und Hollywood.
Ich glaube immer noch, dass es in diesem Bereich im DACH-Raum eine Lücke gibt. Sehr viel größer, als das sie ein einzelner Newsletter füllen könnte. Auch deswegen kann ich jetzt auf ein Jahr cool genug-Schreiben zurückblicken und guten Gewissens folgende Statements abgeben:
Diesen Newsletter anzufangen war eine ziemlich gute Idee.
Newsletter sind nicht so wild, wie sie damals gekocht wurden.
2b. Aber genau das ist der Punkt
Eine Sache, die ich gelernt habe: Ich weiß zwar nicht, wie man Experte in irgendwas wird. Aber wenn du dir ein Thema schnappst und ein Jahr lang einen Newsletter darüber schreibst... dann bist du zumindest verdammt nah dran.
Ich kann nicht wirklich behaupten, cool genug wäre ein riesiger Erfolg. Meine Abo- und Aufrufzahlen sind gut, aber nicht spektakulär. Ein Paid-Programm würde sich wahrscheinlich nicht groß lohnen. Und abgesehen von einigen Spikes, wenn mich irgendjemand Nettes auf Twitter oder in einem anderen Newsletter empfiehlt, ist das Abo-Wachstum etwas zäh.
Und trotzdem: Ich habe wegen meinem Newsletter Kontakt zu allen möglichen spannenden Leuten aufnehmen können, und einige Freelance-Aufträge angenommen, die sonst nie passiert wären. Ich habe mir jede Menge Wissen angeeignet, was ich ohne die Motivation “Lies mal diesen Artikel, vielleicht ist der was für den Newsletter” nie gekriegt hätte. Und — wahrscheinlich am Wichtigsten — lande ich mittlerweile regelmäßig in der Inbox von allen möglichen ziemlich coolen Leuten.
Newsletter haben, im Gegensatz zu Podcasts oder YouTube-Channels, den Vorteil, dass sie sich “nicht so viel nehmen”. Jede Person in der Medienbranche hat schonmal innerlich mit den Augen gerollt, als ihr ein Kollege ein Link zu seinem neuen Podcastprojekt geschickt hat (“Hör mal rein, wir müssen uns noch ein bisschen reinfinden, aber ich glaube, das könnte echt cool werden”). Podcasts verlangen viel von ihrem Publikum — eine festgelegte Zeitspanne Aufmerksamkeit nämlich. Aber die habe ich nicht! Ich komme ja nichtmal dazu, wie meinem Kollegen Christian Schiffer versprochen, Cobra Kai auf Netflix zu gucken!
Newsletter sind da sehr viel entspannter. Man kann jedes Wort lesen, man kann sie nur überfliegen, man kann auch lediglich die Links am Ende angucken, oder sie sogar gar nicht öffnen und einfach alle zwei Wochen denken “Ach ja, den Gregor gibt’s ja auch noch”. Aus meiner Sicht sind alle diese Approaches ungefähr gleich sinnvoll.
Bedeutet: Einen Newsletter zu starten hat, zumindest meiner Erfahrung nach, viel Upside und wenig Downside. Wenn man die Lust und die Zeit dafür hat, gibt es sehr viel schlechtere Ideen.
Aber sind sie auch die Zukunft des Medien-Publishings?
Wahrscheinlich nicht.
Es war von Anfang an irgendwie lustig, dass ausgerechnet der Web 1.0-Klassiker “Email-Newsletter” auf einmal in großen Medien hochgehyped wurde wie eine revolutionäre neue Technologie. Denn das, was Newsletter zu einem so tollen Medium macht, ist eben gerade, dass sie ein Antidot sind zu der hypedurchblutenen Reizüberflutung, zu der das Internet mittlerweile geworden ist. Email-Newsletter kennen aber keinen Empfehlungs-Algorithmus. Sie kennen keine lauten Animationen, Videos und Audios. Sie gehen kaum viral (einzelne Texte vielleicht, aber nicht der Newsletter an sich). Sie sind einfach nur da. Und das ist das, was sie so schön macht.
cool genug ist das einzige jobmäßige Projekt von mir, bei dem ich mich wirklich komplett auf den Inhalt konzentrieren kann. Bis auf sehr wenige Ausnahmen (wo dann mal ein Text von mir auf Twitter oder Reddit rumgereicht wurde) finden über 80% meiner Aufrufe per Email statt. Meine kurzlebigen Versuche, Artikel-Titel oder Veröffentlichungsdatum zu optimieren, sind wirkungslos verpufft. Das Medium ist wie ein Gegenentwurf zu Social Media-Analysen und SEO-Fanatismus.
Die Frage ist: Kann ein so statisches Medium überhaupt dem Hype gerecht werden, mit dem es vor einem Jahr übergossen wurde?
Die Hypenadel sagt nein, und schlägt mittlerweile wieder in die andere Richtung aus (wenn auch nicht so brachial wie bei Clubhouse). Auf die großen Namen der großen Newsletter-Welle in den USA sind nur noch wenige gefolgt. Einer von ihnen, Charlie Warzel, hat seinen Galaxy Brain-Newsletter nach einem halben Jahr zum Atlantic umgezogen, und ist damit quasi wieder im klassischen Printgewerbe gelandet.




Auch in Deutschland war das Newsletter-Jahr 2021 ziemlich still. Steady hat einen Haufen Newsletter gestartet. Ich habe meinen gestartet. Ende der News. Quasi.
Und auch die Zukunft sieht müde aus. In seinen 2022-Vorhersagen erwartet Autor und Investor Evan Armstrong sogar einen “Newsletter Winter”:
The subscription newsletter boom is a smokescreen, a loud mirage that convinces us that content shops are a good business. There is a reason media startups are done so rarely—they usually don’t work! Note: The irony of me publishing this list via a media startup is apparent to me too.
Armstrong macht einen guten Punkt — zumindest aus der Investorensicht lösen Newsletter nicht das zentrale Problem: Dass es verdammt schwer ist, viele Leute auf einmal dazu zu bekommen, für Content im Internet Geld zu bezahlen.
Das einzige, was für mich noch schwerer wiegt: Wie verdammt gut Newsletter einfach sind. Und ich sollte das wissen. Nicht weil ich einen schreibe, sondern weil ich ungefähr drei Dutzend lese und für sechs davon bezahle.
Vor ein paar Jahren bin ich auf Faris Yakobs “Medienpyramide” gestoßen. Der Gedanke dahinter: Analog zur “Essenspyramide”, in der Wurzelgemüse und Bohnen den Löwenanteil in der Basis ausmachen, und Süßigkeiten und Butter die schmale ungesunde Spitze, macht er einen Vorschlag, wie man seine mediale Aufmerksamkeit einteilen sollte. Es gibt Kategorien, die tun einfach nicht gut — zumindest nicht in größeren Dosen.
Faris’ Vorschlag ist nicht absolut — jeder Mensch ist anders und auch das Medienangebot entwickelt sich ja immer weiter. Meine Vorstellung einer Pyramide für mich würde nochmal etwas aussehen. Aber es geht auch nicht darum, das perfekte System zu finden. Sondern eher darum, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Dinge, die wir im Netz konsumieren, einen aktiven Einfluss auf unser Wohlergehen haben.
Für mich sind Newsletter einer der wichtigsten Bausteine dabei, mich in unserer blöden digitalen Welt zurechtzufinden. Mein persönlich kuratierter Newsletter-Feed (ich nutze den Email-Dienst hey.com, der einen solchen Feed anbietet) ist mit Abstand das inhaltlich beste, was mein Computer mir zu bieten hat.
Und einer der Gründe, warum ich dort so verlässlich viel lese, ist ausgerechnet, weil immer was dabei sein könnte, was mich selbst zu einem Newsletter-Text inspiriert. Allein dafür ist dieser ganze Kram hier es wert.
Weil ich Rankings liebe, und meinen Newsletter auch. Hier meine persönlichen 5 Lieblingstexte aus meinem ersten halben cool genug-Jahr:
5. “Das Gegenteil von Theophilus Junior Bestelmeyer”
Ein gar nicht soo spannendes Meme, das damals gerade in war, konsequent bis zu Ende gedacht: Was passiert eigentlich, wenn “normale” Leute ins Netz-Rampenlicht gezerrt werden?
4. “Das offensichtliche Problem des Internets”
Mein Versuch, im August das Thema Metaverse anzugehen — noch bevor Mark Zuckerberg den Begriff für sich beansprucht hat. Immer noch eine gute Gegenwarts- und Zukunftsbetrachtung, denke ich.
3. “Besitz und Status im Internet”
Über die Durch-Kommerzialisierung der digitalen Welt und warum digitaler Besitz für die Kids und Teenager von heute schon völlig normal ist.
2. “Ist Krypto die Zukunft?”
Gedanken zu Web3, der Zukunft von Blockchain-Technologien und ob die wahren Hürden vielleicht gar nicht bei der Technologie der Blockchain liegen, sondern bei ihrem Image.
1. “Träumen User von elektrischen Schafen?”
Diesen Text habe ich quasi im Fieberwahn geschrieben, nachdem ich Blade Runner 2049 gesehen hatte, und mir gibt er sehr viel, auch wenn er vielleicht Geschmackssache ist.
Außerdem
Mein Erklärtext über Roblox. Wenn du nicht weißt, was Roblox ist… du solltest. br.de
Dunkey, einer meiner Lieblings-YouTuber, der etwa einmal im Monat zwischen manisch-skurrilen Comedy-Videos ein smartes Meisterwerk droppt, über “Video Game Acting”. youtube.com
Voice ist nicht das neue Smartphone, Kapitel 3400: Amazon weiß immer noch nicht genau, was aus Alexa werden soll. bloomberg.com
Podcast-Prognosen für 2022, von den sehr smarten Kollegen bei Podstars/OMR. podstars.de
Ein User-Post auf Tumblr erklärt den Streit zwischen Tumblr und Apple und warum Tumblr bestimmte Begriffe in seiner iOS-App sperren musste. sreegs.tumblr.com
Wie die chinesischen Behörden Kritiker ihres Regimes weltweit im Netz verfolgen. nytimes.com
Der Versuch eines kunstkritischen Analyse von NFTs. Bin bei CryptoPunks zwar anderer Meinung, sonst aber extrem gut. youtube.com
“Money in the Metaverse.” newyorker.com
Die gute Seite
Orla Gartlands Debütalbum Woman on the Internet war eines meiner Musikhighlights letztes Jahr, und der größte Song darauf ist More Like You, ein sehnsüchtiges Greifen nach Social Media-Perfektion, die sowieso niemand erreicht. Einer der besten Songs über das Internet, ever.
Oh, I heard it from a woman on the internet
She told me to eat well and try to love myself
Then maybe I won't wish that I was someone else
Oh, I know that I've been flirting with the enemy
But please don't be so perfect right in front of me
I think of all the things that I will never be
Tell me how, tell me how
To be more like you
🍋,