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Ja, das ändert wirklich alles
Wenn ich diese Email verschicke, befinde ich mich gerade in Tag 3 eines Kurzurlaubs. Ich schreibe den Text im Voraus, aber mich erinnert dieser Urlaub jetzt schon an einen Trip, den ich vor etwa drei Jahren gemacht habe — Mitte März 2020 nach Amsterdam. Damals begann Corona gerade damit, wirklich ernst zu werden. Es war unwirklich: durch die Stadt gehen, eine Bootstour durch den Kanal unternehmen, und sich zwischendurch immer wieder erinnern: Ach ja, gerade bricht eine Pandemie aus. Ein Urlaub wie eine Flucht unter Wasser, und bei jedem Auftauchen erscheint die düstere Realität, wie Gas in der Luft.
Ich gehe davon aus, dass dieser Urlaub vielleicht irgendwie ganz ähnlich wird. Eine Flucht vor der Realität — doch die Realität läuft im Hintergrund einfach weiter. Nur geht es diesmal nicht um eine Pandemie, sondern um die vielleicht größte technologische Umwälzung seit dem Internet.
Die Revolution durch künstliche Intelligenz ist kein Zukunftsthema. Sie ist ein Gegenwartsthema.
Die beste Metapher, die für die KI-Revolution existiert, ist vielleicht die einer invasiven Spezies. In das delikate Ökosystem der menschlichen Wirtschaft und Gesellschaft wird auf einmal eine neue Art eingeführt - und niemand weiß, was sie dort anrichten wird. Welche vorhandenen Strukturen werden bestehen bleiben? Welche werden sich anpassen? Welche werden vernichtet? Es ist unmöglich, das sicher zu sagen. Aber Versuche, das zu einzuschätzen, prognostizieren mittlerweile z.B. Dinge wie die Automatisierung jeder vierten Arbeitsaufgabe — und das ist ist bei weitem nicht die waghalsigste Prognose.
Wir alle erinnern uns noch an die frühen Tage der Pandemie. Als uns Stück für Stück klar wurde, dass dieses Thema nicht einfach weggehen würde, als aus schemenhaften Hypothesen handfeste Szenarien wurden, als die Lockdowns zeitlich und geographisch immer näher rückten. Die Vorzeichen wurden jeden Tag klarer.
So ähnlich fühlt es sich heute an. Die leeren Innenstädte kommen. Was auch immer das in diesem Fall heißt.
Einige der Vorzeichen merke ich an mir selbst. ChatGPT ist in nur wenigen Monaten von einem “Nice to have”-Tool zu etwas geworden, auf das ich auf keinen Fall mehr verzichten möchte. Ich nehme selbst wahr, wie mein Gehirn sich umstrukturiert. Es formuliert Gedanken, die ich früher anders abgespeichert hätte, automatisch zu GPT-Prompts um, es kann mittlerweile sehr gut vorhersagen, wie ich mit ChatGPT kommunizieren muss, um zu bekommen was ich will und wo in einer Antwort die Schwächen liegen. Ich habe mit ChatGPT als Hilfsprogramm sogar manchmal das Gefühl, endlich gut coden zu können.
Andere Vorzeichen spuckt die Welt inzwischen im Minutentakt aus.
Im Subreddit für das 3D-Grafik-Tool Blender hat vor einer Woche ein junger Grafikkünstler einen bewegenden Text veröffentlicht: “I lost everything that made me love my job through Midjourney over night.” Anstatt Grafik-Modelle selbst zu erstellen, bestehe seine Arbeit seit Kurzem daraus, Midjourney-Prompts zu bearbeiten. Das ginge schneller, einfacher, günstiger. Ersetzt wurde sein Arbeitsplatz nicht. Aber er ist nicht mehr als derselbe erkennbar.
Ich glaube, wir werden auf Geschichten wie diese zurückblicken wie auf die ersten Meldungen über Lockdowns in China im Januar 2020. Weit entfernte Vorboten für etwas, das unsere Realität für immer verändern würde. Die Frage ist nur… Wie lange wird es dauern, bis die Technologie so weit ist, dass sie uns alle betrifft? Zehn Jahre? Zwei Jahre? Drei Monate?
Ich denke in letzter Zeit viel an die letzte große Aussicht auf eine Internetrevolution: Web3. In der Trend-Hochphase des Begriffs wurde viel darüber geschrieben (auch von mir) und es wurden absurde Marketing-Versprechen gemacht, wie dass jede Brand ohne eigenes NFT abgehängt würde (hoffentlich nicht von mir).
Ich habe mich immer bemüht (ob es geklappt hat, müssen andere sagen), die Zukunft eines krypto-basierten Internet als etwas darzustellen, das kommen kann, aber nicht muss. Das Spannende an Web3-Diskussionen war immer auch, dass nicht nur über die Wahrscheinlichkeit eines Zukunftsszenarios diskutiert wurde, sondern auch über dessen Wert. Ich finde immer noch, dass Web3-Technologie jede Menge Chancen bietet, das Internet auf eine bessere Art und Weise umzubauen — gerade digitale Echtheitszertifikate aka NFTs klingen angesichts des Daunen-Papsts nach einer guten Idee.
Andere Leute haben das anders gesehen. Web3-Kritiker*innen haben alle Blockchain-Konzepte in flammenden Texten verurteilt, und manchmal auch gut begründet. Und aus heutiger Sicht lagen viele mit ihrer Skepsis goldrichtig: Ein Krypto-Projekt nach dem anderen bricht zusammen, und trotz massiver Investitionen hat die Industrie es nicht geschafft, ein Produkt zu entwickeln, das tatsächlich auf breite Anwendung stoßen würde. Web3 ist nicht tot. Aber es ist stark geschwächt.
Nun versuchen einige, den Pfad der Krypto-Kritik auf KI zu übertragen. Es heißt, KI sei nur ein “stochastischer Papagei”, der gar nichts Neues herausfinden könne, KI-generierter Content sei wertlos und unmenschlich, und die Technologie sei nur ein Hype unter vielen, der bald wieder abfallen würde.
Bei Web3 haben diese Argumente funktioniert, weil Web3 bisher eine reine Zukunftstechnologie ist, und deshalb vor allem ein soziales Konstrukt. NFTs, DAOs und Kryptowährungen funktionieren nur, wenn Leute daran glauben. Deshalb (und wegen der ganzen Scams) war die Branche so anfällig für intellektuelle Kritik. Die Kreativbranche denkt heute sehr anders über die Blockchain nach als noch vor ein paar Jahren — und das ist der Verdienst der Kritiker, die den Streit zum Teil für sich entschieden haben.
Nur: Der Web3-Streit hat wohl bei einigen den Eindruck hinterlassen, dass jede Technologie verhandelbar sei. Dass man durch Shaming und Culture War alles aufhalten kann, oder zumindest bremsen.
Aber künstliche Intelligenz funktioniert anders. Weil KI keine Zukunftstechnologie, sondern eine Gegenwartstechnologie ist, lässt sie sich nicht wegdiskutieren. Jemand, der die Arbeit eines Grafikstudios um Midjourney-Prompts herum umbaut, muss nicht glauben dass KI “gut” oder “intelligent” ist. Er muss sie einfach nur glauben, dass sie funktioniert.
Diskussionen darüber, ob KI wirklich “denken” kann, ob sie ein Bewusstsein hat, ob sie Neues erstellen kann oder nur Altes, ob sie ein “World Model” hat oder nicht, ob sie ein stochastischer Papagei ist oder eine neue Spezies… all diese Diskussionen sind intellektuell interessant — sagen aber nur sehr wenig darüber aus, was tatsächlich passieren wird.
Unsere neue KI-Realität definiert sich nicht über philosophische Debatten. Sondern darüber, ob Unternehmen und Regierungen Profite und Macht ausbauen können, indem sie menschliche Arbeit durch KI-Arbeit ersetzen. Und die Antwort darauf kennen wir: Ja. Die invasive Spezies hat gerade erst begonnen, Fuß zu fassen.

Selbst wenn alle KI-Entwicklung der Welt pausieren würde, nicht nur für sechs Monate, sondern für immer… Die Möglichkeiten und Strukturen globaler Wissensarbeit wären wahrscheinlich für immer verändert. Und was, wenn die Entwicklung weitergeht? Sogar noch schneller wird?
Was dann?
Vielleicht waren leere Innenstädte nichts gegen das, was uns bevorsteht.
Außerdem
Keine Linkliste wegen Urlaub. :)
Ich war aber zu Gast bei 11km: der Tagesschau-Podcast zum Thema Chatbot-Mensch-Interaktion.
🌆,