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Das Ende vom Ende
Die letzten Wochen waren hart für Laura Neal.
5.000 Menschen haben eine Petition unterschrieben, sie verhaften zu lassen, und auf diversen Social Media-Plattformen wird sie so ausführlich angegangen, dass sie es sogar in die Trending Topics schafft.
Was ungewöhnlich ist. Denn Laura Neal ist nicht gerade Amber Heard und bis vor ein paar Wochen wusste kaum jemand, wer sie ist. Ich jedenfalls nicht.


Also lernen wir dazu:
Laura Neal ist eine britische TV-Autorin und verantwortlich für die vierte Staffel der Crime-Serie Killing Eve, die vor Kurzem veröffentlicht wurde. Das Staffelfinale war — nach allen Regeln der Bewertung — eine Katastrophe. Reviews waren vernichtend, sogar der Autor der Killing Eve-Buchvorlage nannte es in einem Guardian-Gastbeitrag eine “Katastrophe”. Aber vor allem kann man die Reaktion der Fans auf Social Media nicht anders nennen als aktiv performten Hass.
Aber warum wurde das alles so extrem? Gerade bei einer Serie, die über ihre letzten zwei Staffeln sowieso einiges an ihrem Charme verloren hatte?
Die Antwort ist:
Weil es das Ende war. Die Killing Eve-Episode, die Laura Neal für ein paar Tage zur meistgehassten Person nach Wladimir Putin gemacht hat, war das Finale der Serie.
Serienenden waren schon immer eine kontroverse Sache (siehe Sopranos). Aber durch die Social Media-ifizierung von Fandoms in den letzten Jahren sind sie ein beinahe toxisches Thema geworden. Niemand hat heute mehr Zeit, etwas für sich zu schauen, wirken zu lassen und allein eine Meinung zu bilden. Sobald die Folge vorbei ist (oder sogar während sie noch läuft), hüpft man auf Twitter, Reddit oder Tumblr, liest die Reaktionen der restlichen Fans und lässt sich vom Meinungsstrom mitreißen. Und ob man etwas gut oder schlecht fand, das ist keine Privatsache mehr. Es ist eine öffentliche Äußerung.
Das Laura Neal-Phänomen ist eine Art Mini-Ausgabe davon, was vor drei Jahren mit David Benioff und D.B. Weiss passiert ist, den Autoren von Game of Thrones. Nachdem das Game of Thrones-Finale (das zugegenermaßen furchtbar war) veröffentlicht wurde, entstand eine beispiellose Welle an Fan-Verachtung, die bis heute Energie für einen aktiven Subreddit liefert und zu absurden Ausläufen führte, wie etwa einer gezielten Reddit-Voting-Aktion, um ein Foto der zwei Autoren zum ersten Google-Treffer bei der Suche nach “Bad Writers” zu machen:
Und wenn wir noch einmal zwei Jahre zurückgehen, landen wir bei Rian Johnson, dem Autor und Regisseur von Star Wars: The Last Jedi. Johnsons Onlinepräsenz wurde nach dem Release des Films so vehement von wütenden Star Wars-Fans belagert, dass er in seinen nächsten Film Knives Out einen Internettroll im Teenager-Alter einbaute (oder wie Daniel Craig ihn nennt: “nazi child”).
Das Traurige ist: Es ist quasi unmöglich, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die gleichen Autoren so viel Aufmerksamkeit bekommen würden, weil sie etwas gut gemacht haben. Wenn eine Drehbuchautorin auf Twitter trendet, dann nur weil sie alle hassen. Them’s the Rules.
Trotzdem wird man nicht einfach für jede Serie gecancelt: Laura Neal für Killing Eve, Benniof und Weiss für Game of Thrones und Rian Johnson für Star Wars: The Last Jedi haben drei Gemeinsamkeiten: Sie übernahmen Franchises, die von anderen Autoren erfunden worden waren. Sie übernahmen Franchises mit sehr intensiven Fandoms. Und sie führten Geschichten zu Ende: In den ersten beiden Fällen in Form eines Serienfinale, im Fall von Rian Johnson die Geschichte von Luke Skywalker, der am Ende des Films stirbt.
Und das führt zu der Frage, was diese ganze Wut soll? Ist es wirklich nur Enttäuschung darüber, dass man sich ein anderes Ende für seine Lieblingsfiguren vorgestellt hätte? Das wäre ja noch irgendwie nachvollziehbar — dass fiktionale Personen einem schnell sehr nahe gehen können, weiß jeder, der die ersten zehn Minuten von Oben gesehen hat. Aber bei diesen Social Media-Wellen geht es um mehr als das. Die Fans lassen hier nicht einfach nur Dampf ab. Sie wollen aktiv Dinge verändern.
Jedes der von mir beschriebenen Beispiele ging einher mit Forderungen, die Story noch einmal anders fortzusetzen oder neu zu verfilmen. Es gab Petitionen und Hashtags mit der Forderung: “Wir wollen, dass ihr diesen Fehler richtigstellt und das Ende neu macht.” Und das macht das Ganze natürlich noch viel schlimmer. Denn wenn Leute mit ihren Shitposts auch noch ein bestimmtes Ziel verfolgen, gibt ihnen das natürlich jede Menge Auftrieb, noch drastischer und noch aufmerksamkeitsheischender zu werden.
Und Schuld daran ist Mass Effect 3.
Mass Effect 3 war ein als Ende der Mass Effect-Trilogie angekündigtes Videospiel aus dem Jahr 2012. Nach seiner Veröffentlichung wurde es massiv kritisiert — insbesondere für das Ende, welches vielen Fans zufolge der Geschichte nicht gerecht wurde. So weit so normal. Das Absurde hieran war, dass der Entwickler BioWare tatsächlich reagierten, und wenige Monate später ein neues Ende für das Spiel als Download zur Verfügung stellten.
Das Verhalten von BioWare war zu diesem Zeitpunkt weitgehend beispiellos. Klar kann man bis ins Jahr 1893 zurückgehen und sich The Final Problem anschauen — die Geschichte, mit der Arthur Conan Doyle seinen Helden Sherlock Holmes beerdigen wollte und ihn deshalb von einem Wasserfall stürzen ließ, nur um ihn einige Jahre später aufgrund wütender Leserbriefe wieder zurückzubringen. Aber Videospiele sind nicht das Produkt der Laune eines einzigen Schriftstellers, sie sind gigantische Projekte von tausenden Mitarbeitern in einer brutal umkämpften Branche.
Mass Effect 3 war deshalb auch ein Turning Point für die Consumer-Creator-Beziehung. Heute, zehn Jahre später, erwarten viele Fans von Filmstudios dieselbe Freundschafts-Behandlung wie von Influencern und Streamern. Und die Filmstudios geben ihnen auch noch recht! Erst letztes Jahr versenkte Warner Bros 70 Millionen Dollar in einer Neufassung des Megaflopfilms Justice League, weil ein Haufen Fans einen Director’s Cut gefordert hatten (natürlich forden dieselben Fans jetzt auch die Produktion der gecancelten Fortsetzungen zu besagtem Megaflop und spammen seit Jahren jeden noch so arglosen Tweet des Studios mit Comments zu).
Dass sich Studios und Streamingdienste heute sichtbar stärker an den Wünschen ihrer Fans orientieren, macht es für viele Fans unvorstellbar, dass ihre Wünsche einmal nicht erhört werden — und das ganz besonders, wenn es um das Ende einer Serie geht. Nur Stunden nach dem Finale von Killing Eve kursierten Gerüchte, dass das eigentliche Finale in Form einer zusätzlichen Folge noch kommen würde. Und nach der Absetzung der Netflix-Serie The OA entwickelten Fans bizarre Verschwörungstheorien, nach denen die Absetzung nicht real, sondern Teil eines 3D-Schachzugs sei, der sich in der nächsten Staffel wieder auflösen würde.
Es liegt nahe, dass all dieses Chaos letztlich aber auf ein größeres Problem hindeutet, dass sich auch durch billigste Fan-Anbiederung durch Filmstudios nicht lösen lässt:
Vielleicht wollen Fans auch einfach gar keine Enden mehr.
Klar waren die Enden von Game of Thrones und Killing Eve enttäuschend. Aber es scheint zunehmend klar, dass ein großer Teil des Ärgers über diese Folgen auch daran liegt, dass sie überhaupt ein Ende waren. Dass Fans das Gefühl hatten, ihnen würde etwas durch Beendigung genommen, für immer. Und dass das gute alte Serienende (insbesondere wenn es zum Tod des Protagonisten führt) vom modernen Social Media-Publikum einfach ganz grundsätzlich abgelehnt wird.
Das würde zum Beispiel erklären, warum sogar das Ende von Dexter: New Blood, das vielleicht kein Meisterwerk, aber ziemlich anständig war, eine Hass-Welle abbekam. Und warum Luke Skywalker, auch wenn er in den Filmen gestorben ist, immer noch in Star Wars-Serien auftaucht — als digital verjüngte Version seiner Selbst.
Die Popkulturhelden des 20. Jahrhunderts fanden in Filmen statt: Sie waren Figuren mit Anfang, Mitte und Ende. Die Popkulturhelden in der unendlichen Gegenwart des 21. Jahrhunderts finden im Digitalen statt, wo sie rund um die Uhr beobachtet und diskutiert werden können. Ein Film endet irgendwann. Ein Meme ist für immer. Und wenn man die Aufgabe bekommt, das Ende für ein Meme zu schreiben, wird es zunehmend schwieriger sein, nicht wie Laura Neal von einem Nobody zu einem digitalen Hassobjekt zu werden.
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