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du liest cool genug - die letzte ausgabe 2021.
Das Internet darf kein sexfreier Raum sein
Letzte Woche startete Meta sein erstes großes “Metaverse”-Projekt: Horizon Worlds, eine virtuelle Multiplayer-Plattform für Metas VR-Plattform Oculus Quest. Um Horizon Worlds zu nutzen, muss man sich in seinen Facebook-Account einloggen und kann dann mit bis zu 20 anderen Usern in einem virtuellen Raum abhängen und Minispiele spielen. Horizon Worlds ist ein bisschen Minecraft, ein bisschen Roblox und ein bisschen Fortnite, hat aber anders als diese Vorbilder keine erkennbare Ästhetik, die über “generische animierte Welt” hinausgeht.
Sogar die Avatare, mit denen “gespielt” wird, sind nur virtuelle Darstellungen ihrer echten Spieler und optisch so langweilig, dass mir ihre einzige interessante visuelle Eigenart auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen ist: Die Avatare in Horizon Worlds haben keine Beine.
Man kann die schwebenden Oberkörper von Horizon Worlds für eine willkürliche Kuriösität halten. Mehr Spaß aber macht es, darin sehr viel mehr zu sehen. Horizon Worlds ist Mark Zuckerbergs erster großer Versuch, die Zukunft der menschlichen Identität im digitalen Raum zu bauen. Und er baut: Eine Welt voller generisch aussehender Computerköpfe in Hoodies und Button-Ups, denen literally die Geschlechtsteile fehlen.
Meta führt seit Jahren einen Krieg gegen sexuellem Content, bzw gegen alles, was es dafür hält. Weibliche Brustwarzen auf Facebook und Instagram werden gejagt als wären sie Hakenkreuze. Streamer*innen, die auf Websites verlinken, wo auch Content für Erwachsene angeboten wird, werden die Accounts gesperrt. Und da für einen großen Teil der Content-Moderation automatisierte Systeme zuständig sind, führen auch die absurdesten Bilder zu Bans und Shadowbans: Mein Lieblings-Meme-Account @strammememes wurde, nach eigenen Angaben, allein wegen eines Fotos seines Knöchels gesperrt. Und aktuell sieht es ganz so aus, als würde Meta diese Standards für seine Metaverse-Ambitionen beibehalten wollen.
Teilweise kann ich das nachvollziehen. Metas Maßnahmen gegen vermeintlich sexuelle Inhalte verlaufen kongruent zu einer gigantischen Zahl von Belästigungen, Nötigungen und Drohungen auf Metas Plattformen, und oft sind diese sexualisiert, , insbesondere wenn die Opfer weiblich sind.
In VR ist das ein gewaltiges Problem, das immer klarer wird: Horizon Worlds ist erst seit letzter Woche für alle User zugänglich und erlebt jetzt schon seine ersten Skandale rund um virtuelle sexuelle Übergriffe. Sexuelle Gewalt im virtuellen Raum ist ein Thema, zu dem aktuell noch wenig geforscht und geschrieben wird. Aber natürlich sind alle Metaverse-Träume erst einmal hinfällig, solange es keine stabilen Strukturen gibt, die Fälle, wie hier vom MIT Technology Review dargestellt, verhindern.
Und doch: Wenn das Metaverse wirklich der große virtuelle Raum analog zu unserer analogen Welt werden soll, dann wird Sexualität dort eine Rolle spielen müssen. Alleine schon deswegen, weil für die meisten Menschen sowohl die analoge als auch die digitale Welt wenig Spaß machen, wenn man alles Sexuelle entfernt. Ich erinnere mich an Dr. Cox aus Scrubs, der als eine seiner Weisheiten einmal verkündete: ”Ich bin sicher, wenn man im Internet die Pornos verbieten würde, gäbe es bald nur noch eine Website und zwar mit dem Titel ‘Gebt uns die Pornos wieder!’”.
Tatsächlich aber hatte sexueller Content es in der Geschichte des Internets noch nie so schwer wie heute. Und das Problem liegt nicht nur bei Facebook. Auf TikTok ist es Alltag geworden, alle Begriffe, die um 1-7 Ecken etwas mit Sexualität zu tun haben, in Texten zu zensieren oder zu umschreiben, aus Angst davor, den Algorithmus zu ärgern. Statt “Sex” schreiben User “Seggs” - so selbstverständlich, dass es kaum noch als Meme durchgeht. Auch Sex Ed-Videos werden dort massenhaft entfernt.
Und sogar das Hollywood-Kino hat sich einer Art kreativen Kastration unterworfen. In ihrem sehr gut betitelten Text “Everyone is beautiful and no one is horny” beschreibt Raquel S Benedict den Wandel der letzten Jahrzehnte: Die gleichen Filmstudios, in deren Filmen noch in den 90ern sexuelle Spannung ganz natürlich dazugehörte, trauen sich heute kaum noch, körperliche Anziehung zwischen Menschen zu zeigen (zumindest sobald ein Film ein möglichst breites Publikum erreichen soll und kein Nischenprodukt ist).
Zwar sind die Oberkörper definierter als je zuvor und die Superheldenoutfits zeichnen die Form des menschlichen Körpers perfekt nach, aber dass diese Formen auch von menschlichen Augen wahrgenommen werden, dass sich Menschen zueinander hingezogen fühlen… Not happening. Das Beispiel, an das ich dabei denken muss, sind Batman und Catwoman in The Dark Knight Rises, zwei sehr gutaussehende Menschen, die nur in schwarzem Leder rumlaufen, er mit ins Kostüm integrierten Sixpack-Linien, sie auf gigantischen Stilettos… Und dennoch klingen die Dialoge zwischen ihnen wie die Pausengespräche von zwei Kollegen in einem mittelständischen Betrieb in Oberfranken. Am Schluss machen sie dann für ein paar Sekunden trotzdem rum, aber das hat so viel Power, als hätte man einfach die Regieanweisungen laut vorgelesen.
Das was in Hollywood passiert, passiert auch auf TikTok, passiert auch auf Facebook, passiert in Apples App Store, passiert überall. In den AGBs, die die Regeln unserer modernen Kultur vorgeben, wird Sex meist grundsätzlich verboten - oft in Formulierungen, die den Stellenwert von Sex direkt klarmachen: Oft heißt es z.B., verboten seien “Sex and Violence”. Sehr aufschlussreich, wenn ein Bild von nackten Brüsten so eingestuft wird wie ein Bild eines Lynchmordes.
Das Lustige an der ganzen Sache ist, dass das Internet ganz offensichtlich voll ist mit Menschen, die vor Horniness nur so platzen. Der (man nehme es mir nicht übel) recht durchschnittlich aussehende Programmierer Ben Awad wird auf TikTok mit halbironischen, halbernsten Kommentaren überschüttet, die feuchter nicht sein könnten (“I’m just a hole ben”, “i am submissive and willing”). Und als Oscar Isaac vor einigen Monaten bei einer Premiere öffentlich am Arm seiner Co-Darstellerin Jessica Chastain nagte, explodierte auf Twitter eine Bombe aufgestauter sexueller Energie.

Ich möchte niemandem sein Recht nehmen, Ben Awad und Oscar Isaac hinterherzusabbern. Aber ich will, dass das Internet besser wird. Und irgendwie braucht es dafür, ab und zu, ein bisschen erlaubte Sexualität.
Außerdem
Sehr gutes Interview mit dem TikTok-Weisen und Substack-Kollegen Marcus Bösch über die (teilweise) Offenlegung des TikTok-Algorithmus. zeit.de
China fährt eine koordinierte Influencer-Strategie, um Menschenrechtsverletzungen und Genozid innerhalb der eigenen Grenzen zu vertuschen. nytimes.com
Shein ist immer noch die unterschätzteste Internet-Marke überhaupt. Sehr spannender und etwas schockierender Blick in die Fast Fashion-Maschine des digitalen globalen Zeitalters. restofworld.org
Vögel sind nicht echt. Eine Verschwörungstheorie-Parodie. nytimes.com
Warum auch du bald ohne es zu wollen zu einer viralen TikTok-Story werden könntest. theverge.com
Wie futuritische Internet-Ästhetik von heute der Pokémon-Ästhetik von gestern die Hand reicht. newyorker.com
Promis haben Millionen Insta-Follower. Das heißt nicht, dass irgendwer ihr neues Buch kauft. nytimes.com
Die gute Seite
foldnfly.com ist eine Website mit umfassenden Guides, wie man Papierflieger herstellt. Man kann sortieren nach Faltschwierigkeitsgrad und verschiedenen Attributen wie “Schnelligkeit” und “Flugdauer”. Ich habe null Verbesserungsvorschläge.
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