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(Fast) alle Zahlen im Internet sind wertlos
Einer meiner Lieblingsfilme, Frank (2014), dreht sich um die fiktionale Art-Rock-Band The Soronprfbs und vor allem deren psychisch labilen Frontmann Frank. Darin gibt es eine Szene, in der der neu zur Band hinzugestoßene Jon der Gruppe ein Musikvideo zeigt, dass er ohne das Wissen der anderen auf YouTube gestellt hat.
Frank fragt: "Why does it say 23751 at the bottom?" Jon erklärt: "That's the number of people who've watched the clip." Frank ist elektrisiert: "23751 people are interested in us?"
Wir, das Publikum, wissen natürlich, dass 23.000 Views auf YouTube überhaupt nichts bedeuten. Aber für Frank, der die Spielregeln des Internets nicht kennt, ist diese Zahl gigantisch. Als er kurz darauf bei einem Festival auftreten soll, will Frank die Bühne in festem Glauben daran betreten, dass er und seine Band berühmt sind. Er wird zu spät eines Besseren belehrt: "23,000 hits on YouTube is nothing." Frank versteht die Welt nicht mehr. Der Auftritt wird zum Desaster.
Obwohl sich allmählich der conventional wisdom durchsetzt, dass digitale Erlebnisse genauso echt sind wie analoge, sieht es bei Zahlen anders aus: 10.000 Menschen demonstrieren auf der Straße? Ab damit in die Tagesschau. 10.000 Menschen unterschreiben eine Petition? Who cares, passiert jeden Tag.
Man stumpft im Internet schnell ab gegen hohe Zahlen. Die erfolgreichsten deutschsprachigen YouTuber Bibisbeautypalace und Julien Bam haben jeweils über fünf Millionen Abonnenten. Jeden Tag schaffen inhaltlose Online-Petitionen sechsstellige Unterschriftenzahlen. Einer Studie von HubSpot zufolge haben fast die Hälfte der Instagram-User mehr als 1.000 Follower.
Nur ein Mensch, der das Internet so wenig kennt wie der etwas naive Frank, würde davon ausgehen, dass diese Zahlen zu einer real existierenden Zahl von Menschen korrespondieren. Natürlich folgt nicht jeder zwanzigste Mensch im deutschsprachigen Raum Bibisbeautyspalace auf YouTube. Man gewöhnt sich an, Zahlen intern umzurechnen (z.B.: hundert Follower auf Instagram bedeuten fünfzig Personen im echten Leben, bedeuten zehn Personen, die der Content wirklich interessiert, oder irgendwie so).
Aber damit werden wir immer wieder herausgefordert - und nirgendwo so stark wie auf TikTok, einer Plattform, die schon eine 0,1-sekündige Abspieldauer als View zählt und damit zum Beispiel diesem TikTok namens "Schuldirektoren be like" eine höhere Zahl von Views bescheinigt als die gesamte Kinolaufzeit von Ziemlich beste Freunde - einem der größten Kinoerfolge aller Zeiten in Deutschland.
Dieses ganze Zahlengewitter ist letztlich fast wertlos. Likes und Views werden massenhaft gekauft, in Follower-Circles untereinander ausgetauscht oder über fragwürdige Aktionen erschlichen. Eine Studie kam kürzlich zu dem Ergebnis, das fast die Hälfte aller Instagram-Influencer schon Zahlen künstlich in die Höhe manipuliert hat.
Und wer kann ihnen einen Vorwurf machen? Nicht nur bei Influencern hängt der finanzielle Erfolg direkt an den eingeblendeten Zahlen, auch Schauspielerinnen in Filmen und Serien werden heute oft unter anderem nach ihren Reichweiten auf Social Media besetzt. Ähnlich geht es Social Media-Managern und Marken-Beratern.
Die Gen Z versteht dieses Spiel besser als irgendwer sonst und organisiert sich seit einigen Jahren zum Beispiel innerhalb von Pop-Fandoms, um den jeweiligen Idolen dabei zu helfen, irgendeinen Stream- oder Klick-Rekord zu verschaffen. Influencer in der K-Pop-Community veröffentlichen komplexe Guides, die beschreiben, wie ein einzelner Fan möglichst viele Views auf den Account des Produkts, äh, der Band schaufeln kann (möglichst oft hören, auf verschiedenen Accounts und Plattformen, und so weiter). View-Rekorde werden gefeiert wie Pokalsiege im Sport - und mit Begeisterung von Newsportalen aufgegriffen.


Ich glaube, unsere moderne Zahlen-Obsession spiegelt ein Verlangen nach Ordnung wieder, wie sie in unserer chaotischen digitalen Welt sonst kaum existiert. Ein Brand-Marketing-Mensch, der über eine Kooperation mit einer Influencerin entscheidet, macht in gewisser Weise das Gleiche wie eine Universität, die entscheidet, dass sie keine Leute über einem Abischnitt von 1,3 Medizin studieren lassen möchte - die Lage ist einfach zu unübersichtlich und an irgendwas muss man sich ja festhalten.
Doch die Obsession fordert Opfer. Zum Beispiel, als Facebook Mitte der 10er Jahre seine Facebook Video-Plattform mit künstlich nach oben manipulierten Viewcounts attraktiver aussehen lassen wollte. Zahlreiche Verlage und Websites verfolgten eine "Pivot to Video"-Strategie und verloren am Ende Geld.


Dass wir im Netz ständig mit gigantischen Zahlen konfrontiert sind, hat ein Umdenken erzeugt. Nur besteht dieses Umdenken leider in der Regel darin, Zahlen einfach im Kopf kleiner zu machen und dann trotzdem mit ihnen zu arbeiten. Dieses starre Festhalten an weitgehend wertlosen Statistiken hält wahre Innovation im Netz immer noch zurück.
In einem mittlerweile berühmt-berüchtigten Essay namens "1000 True Fans" brachte der damalige Wired-Chefredakteur Kevin Kelly eine für damals (2008) halb-revolutionäre These:
To be a successful creator you don’t need millions. You don’t need millions of dollars or millions of customers, millions of clients or millions of fans. To make a living as a craftsperson, photographer, musician, designer, author, animator, app maker, entrepreneur, or inventor you need only thousands of true fans.
A true fan is defined as a fan that will buy anything you produce. These diehard fans will drive 200 miles to see you sing; they will buy the hardback and paperback and audible versions of your book; they will purchase your next figurine sight unseen; they will pay for the “best-of” DVD version of your free youtube channel; they will come to your chef’s table once a month. If you have roughly a thousand of true fans like this (also known as super fans), you can make a living — if you are content to make a living but not a fortune.
Kellys Idee, die von der großartigen Autorin Li Jin mittlerweile schon auf "100 True Fans" runterkorrigiert wurde, lässt sich heute überall beobachten:
Auf der Streamingplattform Twitch zum Beispiel ertrinken ohnehin reiche Streamer in freiwilligen Spenden - entscheidend sind hier nicht ihre Millionen Views, sondern der winzige Prozentsatz der User, der ihnen regelmäßig Geld rüberschiebt. Und auf der anderen Seite des Medienspektrums brachte der Substack-Blog "Slow Boring" von Politik-Kolumnist Matthew Yglesias Stand März 2021 fast eine Million Dollar an Einnahmen im Jahr ein - und das von nicht einmal 10.000 zahlenden Abonnenten.
Letzteres Beispiel trifft bei mir persönlich natürlich einen Nerv. "cool genug" hat zwar weder 10.000 Newsletter-Abonnenten, noch bezahlt irgendjemand für diese Texte. Trotzdem tut es gut, zu wissen, dass meine (im Vergleich zu all den oben genannten Beispielen auf Instagram und TikTok völlig mickrige) Abo-Zahl tatsächlich ein bisschen was wert ist. Dass jede Person in dieser Zahl erst abonniert hat, das Abo dann noch einmal per Email bestätigt und jetzt (so sagen es die internen Statistiken) auch einen Großteil der Ausgaben öffnet und liest. Eine sehr angenehme Alternative zur seelenslosen Scroll-Like-Scroll-Mechanik der Social Media-Feeds.
Die plötzliche Flucht von vielen amerikanischen Autorinnen und Autoren ins Newslettermodell wurde in den Branchenmedien vor allem als Flucht in die Unabhängigkeit und finanzielle Freiheit verstanden. Tatsächlich ist es aber auch eine Flucht in die Freiheit vor den Zahlen. Kein Mensch weiß, wie viele Leute diesen Text von mir hier lesen, und das macht mich sehr zufrieden. Denn so reicht kein schneller Blick auf den Viewcount, um zu entscheiden, ob der Post gelungen ist oder nicht. Es geht, ausnahmsweise im Netz, einfach nur um Inhalt.
Außerdem
Inside von Bo Burnham ist ein sehr sehenswertes Ein-Mann-Corona-Comedy-Musical über Lagerkoller und Social Media. Der beste Moment (finde ich): Die Bridge in “White Woman’s Instagram”. netflix.com
Schülerinnen, Schüler und Studierende bauen gigantische Netzwerke rund ums Lernen - auf allen Plattformen, die das Internet hergibt. every.to
So sieht ein Fake-Streamingdienst aus, der mit möglichst schlecht aussehenden Filmen Leute zum Kündigen bringen möchte - und dabei persönliche Daten abgreift. spiegel.de
Wie das Post-Punk-Genre es von MySpace zu TikTok und zurück in die Charts geschafft hat. stereogum.com
Die Meme-Aktien sind wieder da - diesmal mit weniger Gamestop und mit mehr AMC. cnbc.com
Diese Website findet den kürzesten Weg zwischen zwei Wikipedia-Einträgen (ich kenne das Prinzip noch aus meinem Informatik-Unterricht in der Schule, als uns langweilig war. Ziel des Spiels damals war es, mit möglichst wenigen Klicks auf den Artikel für Hitler zu kommen. Life was good.) sixdegreesofwikipedia.com
Dieses TikTok zeigt, wie es wäre, wenn Leute überall hin schliddern statt gehen würden. tiktok.com
Das Meme
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