

Discover more from cool genug
Fanfiction zeigt, dass Geschichten uns allen gehören
oder: So schreibt man eine NOCH bessere Version von Fifty Shades of Grey
letzte woche gab es kein cool genug. und nächste woche auch nicht!
ich bin seit dem 15. juni für zwei monate teil des r&d fellowship programms des media lab bayern. in der zwischenzeit wird dieser newsletter nur zweiwöchentlich erscheinen. weil die heutige ausgabe aber besonders gut ist, mache ich mir um das wohl meines publikums keine sorgen :)
Fanfiction, Fans und Fiction
In weniger als zwei Monaten, ab dem 1. August 2021, wird die neue Urheberrechtsrichtlinie der EU gelten. Es fühlt sich merkwürdig an, das zu schreiben. Die Urheberrechtsreform macht mir schon so lange Kopfschmerzen, mein Kopf hat nicht ganz akzeptiert, dass sie wirklich einfach eines Tages da sein wird und nicht für immer hypothetisch bleiben, so wie George R.R. Martins angekündigtes Finale der Game of Thrones-Reihe oder ein Ende des Nahostkonflikts. Und auch wenn die Urheberrechtsreform z.B. bedeutet, dass ich als Journalist weniger Geld verdiene (dank der Wiedereinführung der Verlegerbeteiligung) und wir bald dauerhaft durch jahrelang dementierte Uploadfilter gepeinigt werden, gibt es tatsächlich eine gute Sache an all dem:
Fanfictions sind jetzt legal.


Ähnlich wie Memes, Reactionvideos und andere prägende Medienformate des Internets haben sich Fanfictions jahrzehntelang in einer juristischen Grauzone bewegt. Darf man einfach so das Werk einer anderen Schriftstellerin umschreiben, ihre Figuren, Plots und Ideen verwenden und umformen? Darf man Geschichten im Netz veröffentlichen, in denen Hermine Granger mit Severus Snape schläft? Die Antwort war jahrelang ein entschiedenes "Joa, also rein rechtlich gesehen..., hm, grundsätzlich nicht unbedingt, aber es kommt wahrscheinlich darauf an".
Ab dem 1. August lautet die Antwort, zumindest in Deutschland: Ja. Denn Fanfictions werden in der deutschen Umsetzung der Urheberrechtsreform explizit als erlaubt genannt.
Obwohl die Entscheidung vermutlich eher einen symbolischen Charakter hat, bin ich darüber sehr glücklich. Das Medium Fanfiction ist im Garten der Online-Kreativität schon immer einer der größten und ältesten Bäume gewesen - ein Großteil der Teenager, die sich in den letzten fünfzehn Jahren ans Veröffentlichen von kreativen Texten gewagt haben, haben das zuerst auf Fanfiction-Boards getan (darunter yours truly Gregor Schmalzried, aber den Account verlinke ich hier bestimmt nicht).
Fanfiction, das Weiterspinnen und Umerzählen bekannter Geschichten, ist so alt wie das Geschichtenerzählen selbst. Der Gedanke, dass der ursprüngliche Autor ein Monopol auf die Erzählung einer Geschichte haben könnte, ist wohl nur ein paar hundert Jahre alt. Und wäre einem Kind, das gerade neue Abenteuer mit seinen Star Wars-Figuren erfindet, auch nur schwer beizubringen.
Dieses Kind ist in hochrangiger literarischer Gesellschaft. John Miltons Paradise Lost ist 17. Jahrhundert-Fanfiction der Bibel, Goethes Faust eine Umdichtung der Story von Dr. Faustus. Dante malt sich in seiner Göttlichen Komödie aus, wie er selbst durch die Hölle schreitet - und macht damit ziemlich genau das Gleiche wie zahllose Jugendliche heute, wenn sie sich in ihren Harry Potter-Fanfictions vorstellen, selbst einmal nach Hogwarts zu reisen.
Die Geburt der modernen Fanfiction wird heute meist mit dem Star Trek-Fandom in den 70ern in Verbindung gebracht. Damals waren es mehrheitlich weibliche Star Trek-Fans, die in mehrheitlich homoerotischen Geschichten neu ausgedachte Abenteuer von Spock und Kirk schrieben (homoerotische Fanfictions, sog. "Slash Fictions", machen heute noch einen wesentlichen Teil der großen Fanfiction-Archive aus). Das erste große Fanfiction-Portal Fanfiction.net ging im Jahr 1998 online und seinen großen Boom erlebten Fanfictions mit der Harry Potter-Craze in den 00er-Jahren. J.K. Rowling ist hier eine wichtige Figur, ihre explizite Billigung von Fanfiction über rechtliche Bedenken hinaus ist einer der Gründe, warum das Medium so explodieren konnte.
Und dann kam, natürlich, Fifty Shades of Grey. Ursprünglich als Twilight-Fanfiction geschrieben und im Netz veröffentlicht wurde die Buchreihe von E.L. James nach einer leichten Anpassung von Plot und Charakternamen erst zum internationalen Bestseller und dann zu einer Hollywood-Filmreihe. Stephenie Meyer, die Autorin der Twilight-Saga, hat nie rechtliche Schritte gegen E.L. James eingeleitet. Und dass obwohl Fifty Shades of Grey eine Grenze überschritten hat, die für Fanfictions normalerweise heilig ist: Der Kommerz. Gratis den Stoff von jemand anderem weiterschreiben ist das eine. Dafür Geld zu verlangen ist das andere.
Nur... ist es wirklich so einfach? Die Literatur- und Filmwelt ist voll von Umdichtungen bekannter Stoffe, und einige sind sehr viel direkter als Miltons Paradise Lost. Die Millennium-Krimis von Stieg Larsson wurden nach dem Tod Larssons von einem anderen anderen Autor weitergeführt. Francis Spufford hat vor ein paar Jahren einen Roman geschrieben, der in Narnia spielt. Der Roman und die daraus entstandene Verfilmung Stolz und Vorurteil und Zombies ist genau das, wonach es klingt. Und trotzdem wird hier das Wort "Fanfiction" meist vermieden, man spricht stattdessen von "Mashups", "Fortsetzungen" oder "Neuschöpfungen", nicht aber von Fanfictions.
Warum das so ist? Viele befürchten: Weil das Wort "Fanfiction" im klassischen Literaturbetrieb oft als schmutzig und minderwertig betrachtet wird - trotz seiner Wurzeln bei Goethe und Dante. Und das liegt vielleicht auch an der Tatsache, dass Fanfiction-Autorinnen und -Leserinnen überwiegend weiblich sind.
Women's stories, just like women's lives, have long been assumed to be less serious. We'd already learned that in fandom. In fact, one of the reasons fan fiction is so sneered at is that a major part of it has always been women, often young women, writing sexy stories about men. It was mostly women who wrote those schlocky homoerotic romances between Captain Kirk and Mr. Spock, two tortured souls trapped in elaborately contrived situations where they had to have sex or die. These stories were painstakingly carbon-copied and sold at conventions, and the reason they mattered was that, even at the height of the so-called sexual revolution, there was little room within popular culture for women to imagine a kind of eroticism outside the stories we were told about ourselves.
Laurie Penny, We Can Be Heroes
Und das bringt uns zurück zu der absurden Situation des Fanfiction-Urheberrechts. Es gibt im Internet Fortschreibungen von Stieg Larssons Millenium-Trilogie, die eine völlig andere Geschichte erzählen als die, für die sich der Verlag hinter der Reihe entschied. Beide haben nichts mit dem originalen Autor zu tun. Macht das die Version des Verlags automatisch zur Richtigen?
Das Schöne an Fanfiction im Internet ist, dass sie einen Gedanken manifestiert, den wir eigentlich alle schon verinnerlicht haben: Wenn wir eine Geschichte hören, lesen oder schauen, dann gehört sie nicht mehr dem Autor, sondern uns, und wir können damit machen, was wir wollen. Die Vorstellung, dass ein Verlag eine andere Millenium-Fortsetzung sperren lassen könnte, weil er entschieden hat, dass seine die richtige ist, ist absurd. Stattdessen gilt: Fanfiction-Autorinnen geben uns die Freiheit, unsere Geschichten da zu finden, wo wir sie finden wollen.
Im Jahr 2018 veröffentliche E.L. James ein Spin-Off-Buch zu Fifty Shades of Grey mit dem Titel Grey. Es ist dieselbe Story wie die aus dem Roman - nur erzählt aus der Perspektive der männlichen Hauptfigur anstatt der weiblichen. Das Problem war nur: Zu diesem Zeitpunkt waren ihr bereits Fans zuvorgekommen. Im Internet hatten sich zahlreiche Fanfictions bereits der Aufgabe angenommen, Fifty Shades of Grey (was ja ursprünglich auch eine Fanfiction war) aus Christian Greys Sicht zu erzählen.
Als dann E.L. James "offizielle" Version erschien, interviewte die New York Times einige Fans der bereits existierenden Fanfiction-Version von Emine Fougner. "I know ‘Grey’s’ going to be a letdown for me", sagt eine Leserin. "I’ve already read it through Emine’s eyes, and I honestly don’t think E. L. James can touch her version of Christian."
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