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Die Welt geht unter. Was postest du auf Insta?
Am 26. Februar, wenige Tage nach Putins Einmarsch in die Ukraine, schrieb mein Freund Christian Alt auf Twitter folgendes:
Damals ging es mir genauso. Jetzt ist es eine Woche später. Und es geht mir immer noch genauso. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist die wahrscheinlich größte weltgeschichtliche Entwicklung, die ich bewusst miterlebe (am 11. September 2001 saß ich noch in der Grundschule). 1000 Kilometer von meinem Wohnort entfernt herrscht Krieg, wir sind einer nuklearen Katastrophe so nah wie nie zuvor, die Welt ist auf den Kopf gestellt.
Augenscheinlich spaltet sich die Social Media-Öffentlichkeit in diesen Tagen in zwei Welten: Da sind diejenigen, für die der Krieg und seine Folgen alles andere überrollt hat: die Joke-Tweets bleiben in den Drafts, die Essensfotos bleiben privat. Dazu gehöre auch ich. Seit dem 22. Februar habe ich auf Twitter oder Instagram nur ein einziges Mal etwas gepostet, das nicht direkt etwas mit dem Krieg zu tun hatte — und das war ein wehmütig aussehender Sonnenuntergang, fotografiert aus einem schlierigen Zugfenster.
Nur bin ich damit zunehmend in der Minderheit. Für die meisten mitteilungs-freudigen Accounts in meinem Umfeld geht das Leben weiter wie vorher: Barabende mit Freunden, Ausflüge auf den Berg, Kinobesuche, seit Freitag sogar wieder Clubnächte. Zwei dieser vier Dinge habe ich in der letzten Woche selbst gemacht — nur gepostet habe ich dazu nichts. Weil…
Ja, warum eigentlich nicht?
Vor einem Jahr, im nicht endenden Lockdownfrühling, hat mir eine Kollegin erzählt, sie könne sich Instagram nicht mehr antun. Konkret beschrieb sie mir eine Instagram-Story einer Freundin, die sie wirklich wütend gemacht hätte: Ein Sunshine-Post mit Kaffee und Sommerkleid.
Ich konnte das damals nicht nachvollziehen — aber jetzt verstehe ich besser, worum es meiner Kollegin damals ging. Nämlich um das Gefühl, dass die Welt gerade aus den Fugen gerät, und während man ziellos und panisch umherirrt findet man statt Verständnis und Hilfe nur grinsende Fratzen, die vorgeben, das Leben zu genießen. Ein Bild wie aus einem David Lynch-Film.
Die Entwicklung des Internets zu einem Ort, an dem einerseits alles brennt und andererseits alles ganz normal ist, fällt zusammen mit einer Zeit, in der das Internet als Gegenstand allgemein an Relevanz verliert. Viel wurde schon geschrieben über den “Cyberkrieg”, doch wenn Panzer durch Wohngebiete fahren und Menschen beschießen, wen kümmern da Attacken auf digitale Infrastruktur? Auch die Propaganda-Auseinandersetzung im Netz hat sich sehr schnell geklärt: Im Westen gewinnt die Ukraine, in Russland und China gewinnt Russland. Okay. Und weiter? Dieser Newsletter dreht sich eigentlich um Social Media und digitale Kultur. Aber wen juckt das schon, wenn gerade russische Bomben auf europäische Zivilisten fallen?
Bleibt also noch der Weltuntergang.
Wie einige andere hat mich diese Woche ein Twitterthread des Journalisten Richard C. Schneider sehr beeindruckt, und wenn ich “beeindruckt” sage, dann meine ich “verstört”.
TLDR: Der Thread ist eine Zusammenfassung aller Gründe, weshalb das Allerschlimmste, d.h. ein Atomkrieg, nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

In den Kommentaren unter dem Thread finden sich einige Gegenreden zu dem, was Schneider hier schreibt, inklusive dem Vorwurf, “Doomsday-Szenarien” würden niemandem helfen. Für mich als absoluten Doomsday-Nichtexperten ist es schwer, das einzuschätzen. Aber Schneider ist ja nicht alleine. Seit einer Woche mehren sich die Stimmen von fachkundigen Leuten, die vor Szenarien warnen, in denen Putin — for real — einen dritten Weltkrieg vom Zaun brechen könnte.
Dass die statistische Wahrscheinlichkeit für diese Szenarien immer noch sehr niedrig ist, hilft dem Kopf, der sich damit belastet, wenig. Menschen können zwischen sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten nicht wirklich unterscheiden. Wir können, wenn es hochkommt, zwischen fünf Wahrscheinlichkeitsgraden unterscheiden: Unmöglich, unwahrscheinlich, möglich, wahrscheinlich, und sicher. (Das ist übrigens auch der Grund, warum Menschen Lotto spielen.) Und das Szenario “Atomkrieg” wandert gerade für viele von uns aus der unmöglich-Schublade hinein in die unwahrscheinlich-Schublade — unabhängig davon wie hoch die Wahrscheinlichkeit in der Realität ist. Und ein unwahrscheinlicher Atomkrieg jagt leider eine Heidenangst ein.
Diese Entwicklung lässt sich überall im Internet beobachten.
Seit einigen Tagen werden “Was tun wenn Atombombe”-Videos auf YouTube massenhaft gesehen und empfohlen. Es handelt sich dabei größtenteils um Videos, die schon einige Jahre alt sind — und zum Glück sind die meisten kompetent gemacht, wie etwa das hier vom funk-Channel Kurzgesagt.
Aber durch YouTubes immer-aktuelle Kommentarfunktion wird aus diesen Videos, die ursprünglich als mal generelle Info-Videos gedacht waren, ein “Current Events”-Inhalt. User diskutieren ihre Ängste und Sorgen über Putin, einer berichtet davon, am Tag zuvor von einer Atombombe geträumt zu haben. Hier verhandeln viele, vor allem junge Menschen ihre Sorgen: Was, wenn es mich trifft? Oder meine Familie?
Die heutige Digital Native-Generation ist zu jung, um sich je Sorgen um Atomwaffen gemacht zu haben. In ihrem Essay Warum deutsche Millennials strategisches Denken lernen müssen zitiert Ulrike Franke den bulgarischen Autor Ivan Krastev: “Das Ende der Geschichte war eine amerikanische Idee, aber eine deutsche Realität.” Die 90er- und 00er-Jahre-Kids, die im deutschen Internet den Ton angeben, haben gefühlt immer abseits der Geschichte gelebt. Und nun erleben viele von ihnen, wie die Geschichte sie mit aller Brutalität wieder einholt.
Und das ist das Problem mit den fröhlichen Insta-Posts.
Ich glaube, anfangs war meine Abneigung noch die Sorge um die Apathie meiner Generation. Ich kenne Leute, die schon fünfmal wählen waren, dabei aber noch nie über Sicherheits- oder Außenpolitik nachgedacht haben. Ich kenne Leute, die fast nie Nachrichten konsumieren und bis heute nicht wissen, was “die Krim” ist. Für einige dieser Menschen ist der Ukraine-Krieg hoffentlich ein Weckruf — sich mehr zu beschäftigen mit dem, was tatsächlich in der Welt passiert.

(Side Note: Wenn ich bedenke, dass Gregor Gysi gerade den Satz “Wenn wir jetzt in der Regierung wären – das wäre eine absolute Katastrophe” gesagt hat, dann brauchte es so einen Weckruf nicht nur in der normalen Bevölkerung, sondern auch in der großen Politik.)
Aber durch die Sorge um ein Worst Case-Szenario kommt noch etwas Anderes dazu. Es ist nämlich unmöglich, sich ernsthaft über ein Atomkrieg-Szenario Gedanken zu machen und sich gleichzeitig darüber zu freuen, dass Annika aus der Uni eine coole neue Gin-Bar entdeckt hat. Es geht einfach nicht. Doch das Internet verlangt das trotzdem von uns, es schmeißt alle unsere Nöte, Gedanken und Partynächte in einen Topf, setzt sie uns vor und sagt: “Hier, bitteschön.” Das, was dabei rauskommt, kann nur ein groteskes Monstrum sein. Weil die Welt selbst ein groteskes Monstrum ist.
Aber jetzt nehmen wir uns mal den Worst Case als Gedankenexperiment. Überlegen wir einfach, dass morgen alle Atombomben weltweit hochgehen (dazu hat Kurzgesagt übrigens auch ein Video) und dann ist — Pardauz! — alles vorbei.
Wäre es dann falsch, heute den Abend mit Freunden in einer Bar zu genießen? Auf einen Berg hochzuwandern? In den Club zu gehen?
Natürlich nicht — im Gegenteil. Bars, Berge und Clubs wären eine sehr gute Entscheidung. Natürlich müssten die Insta-Storys unserer letzten 24 Stunden Insta-Storys so aussehen, als wären sie ganz normal. Denn würden sie anders aussehen — dann würde das bedeuten, wir hätten all die Jahre völlig falsch gelebt.
Die Zeitenwende ist hier, und es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir haben noch viel Arbeit vor uns, die Apathie aus unseren Köpfen herauszukommen und mit der Zeitenwende umzugehen. Oder es ist eh alles wurscht.
In beiden Fällen sind Partyabende auf Insta total in Ordnung. Mehr als das: Sie sind das beste, was wir haben.
Außerdem
Marcus Böschs TikTok-Newsletter war schon immer enorm gut — über die letzten zwei Wochen ist er essentiell geworden. tiktoktiktoktiktoktiktok.substack.com
Russland kann den Propagandakrieg im Netz nicht gewinnen. br.de
Über Krieg in den sozialen Medien. beritmiriam.substack.com
How China Embraces Russian Propaganda and Its Version of the War. nytimes.com
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