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Better Call Saul
Hier ist ein guter neuer Trendbegriff:
“Low Sodium”
Zum ersten Mal auf den Begriff gestoßen bin ich in diesem Vice-Text über das plötzliche Erstarken von “Low-Sodium-Communitys” auf Reddit, eine Idee, die mir gruselig schnell eingeleuchtet hat.
Low Sodium ist die Gegenbewegung zu einer Art von Popkultur-Fandom, die in den letzten Jahren immer tonangebender geworden ist: Popkultur-Communitys von Leuten, die sich im Netz nicht über etwas austauschen, weil sie es mögen, sondern weil sie es früher gemocht haben — und jetzt hassen.
Zu den wichtigsten Beispielen gehört /r/freefolk, ein Subreddit, der ursprünglich an Fahrt aufnahm, weil Leute sich dort besonders hardcore über die enttäuschende letzte Game of Thrones-Staffel auslassen konnten. Heute ist es hauptsächlich ein Ort für Heul-Posts darüber, dass das neue Game of Thrones-Spinoff House of the Dragon schwarze Schauspieler castet. Das Star Wars-Äquivalent dazu ist /r/saltierthancrait, die internetgrößte Hass-Community rund um fast alle Star Wars-Produkte seit 2012. Wo Verachtung für Popkultur zum Hobby wird.
Diese Communities sind (wie es /r/saltierthancrait schon im Namen trägt) “salty”, d.h. verbittert vom vielen Flennen (Tränen = salzig, vgl auch das Meisterwerk “Salty” von Lugatti & 9ine).
Ein “Low Sodium”-Subreddit ist also der Versuch, eine Community zu schaffen, die eben möglichst un-salty bleibt, in der sich Fans ohne Bitterkeit austauschen können — fast als könnten Filme, Serien und Games auch Spaß machen.
Bisher sind “Low Sodium”-Communitys hauptsächlich ein interessantes Kuriosum und lang nicht so tonangebend wie ihre salzigen Alternativen. Spätestens seit der Gamergate-Kampagne sind Fandom-Geschichten mit Newswert leider meistens Geschichten über Harrassment, künstlich aufgebauschte Kampagnen oder Selbstmordversuche nach “gut gemeintem” Bullying.
Mit einer Ausnahme. Einem der lustigsten und interessantesten Fandom-Phänomene der letzten Jahre… low-sodium und low-drama.
Es geht um das Shitpost-Fandom von Better Call Saul.
Better Call Saul ist die Spinoff-Serie von Breaking Bad, aktuell laufen die letzten Episoden der finalen sechsten Staffel. Better Call Saul dreht sich um einige aus Breaking Bad bekannte Figuren, unter anderem den titelgebenden Anwalt Jimmy McGill aka Saul Goodman, den Meth-Tycoon Gustavo Fring und den Gangster-Handlanger Mike Ehrmantraut.
Die Serie ist (gemeinsam mit Succession) vermutlich was beste, was in den letzten Jahren in Sachen visuelles Storytelling existiert hat. Better Call Saul ist ein Showcase für fantastische Figuren und Darsteller, atemberaubende Bild- und Symbolsprache, experimentelles und unberechenbares Storytelling — und das obwohl die Geschichte größtenteils vor Breaking Bad spielt, und wir deshalb wissen, was mit den meisten Hauptfiguren passieren wird.
Better Call Saul unterscheidet sich zudem von seiner Vorgängerserie durch eine langsamere und weniger explosive Erzählweise. Jetzt, in den finalen Episoden der Serie, wird das besonders klar. An diesem Punkt in Breaking Bad war die Hölle los, Hauptfiguren wurden links und rechts umgebracht, die Spannung spitzte sich unerträglich zu. In der Better Call Saul-Folge von letztem Dienstag sah das anders aus — da beobachteten wir eine Stunde lang einen unnötig komplizierten Kaufhaus-Raub und einen Zimtschnecken-essenden Sicherheitsmann. Und es war brillant.
Also… Wie sieht wohl das dominante Online-Fandom einer Serie aus, die so anspruchsvoll und großartig ist?
So:
Dieses Meme mit dem Better Call Saul-Charakter Mike Ehrmantraut (Erklärung hier) ist das Kronjuwel des Subreddits /r/okbuddychicanery. Die Community begann als verstörte Better Call Saul-Memegemeinschaft, hat aber mittlerweile Einfluss weit über Reddit hinaus und ist quasi eine akzeptierte Art und Weise geworden, online über Breaking Bad und Better Call Saul zu sprechen.
In der grotesken Nonsens-Welt von /r/okbuddychicanery heißt Mike Ehrmantraut “Finger” (was mittlerweile so selbstverständlich ist, dass ein Reddit-User angeblich seinen neugeborenen Sohn so genannt hat), alle warten darauf, dass ein Charakter endlich einen anderen isst und hochdramatische Todesszenen werden in Memes verwurstet. Die Breaking Bad-Fans, die immer noch nicht verstanden haben, dass die Breaking Bad-Hauptfigur Walter White kein cooles Idol, sondern ein narzisstischer Serienmörder ist, werden aufs Härteste geroastet — wenn auch meist indirekt.
Vor allem zeigt das Better Call Saul-Fandom aber eines: Das es möglich ist, eine absurde, lustige und einflussreiche Memekultur rund um ein bekanntes Popkultur-Werk zu schaffen — indem man es kein bisschen ernst nimmt.
Dieser Post (das Video, um das es geht, gibt es hier) hat glaube ich nur zu 50% recht, aber er berührt einen Trend, der immer wichtiger und interessanter wird:
Dass es in der zeitgeschichtlichen Gegenwart zum Alltag geworden ist, Dinge gleichzeitig ironisch und ernst zu meinen.
Dogecoin war nie mehr als ein dummes Meme, und Leute investieren trotzdem hinein. QAnon nahm seinen Anfang als Inside-Joke auf 4chan, bis seine Leser Wahrheit und Witz nicht mehr auseinanderhalten konnten. Und Better Call Saul scheint in den Augen seiner größten Fans nur ein dummes Meme zu sein, und trotzdem nehmen sie die Serie ernst, wenn sie läuft.
Ein /r/okbuddychicanery-Nutzer fasst das in einem Kommentar so zusammen:
even with all the dumbass memes, when I'm actually watching the episode, I am HOOKED. I'm not thinking about any stupid finger meme or what have you. When I'm watching the show, I'm just nervous about the characters, and I'm tense, and I'm trying to figure out what's going through characters' heads.
Das wirklich Faszinierende ist aber, was die Serienschöpfer selbst daraus machen. Denn bis vor Kurzem schien die Arbeitsteilung klar: Das Team macht eine fantastische Serie, die Fans machen sich darüber lustig.
All das änderte sich vor einigen Tagen, als die Serientitel für die letzten drei Episoden der finalen Staffel bekannt gegeben wurden.
Episode 11 heißt Breaking Bad. Und Episode 13, das große Finale, heißt Saul Gone, ein sehr flaches Wortspiel auf “It’s all gone”.
Man kann nicht genug betonen, wie dämlich diese Titel sind. Sie klingen nach reinen Troll-Aktionen, nach etwas, das ein Better Call Saul-Troll-Subreddit sich nicht besser hätte ausdenken können. Oder wie ein User meint:
We were mere naive and foolish mortals blinded by our own collective hubris thinking that we would be able to out-chicanery Bravo Vince himself.
Das ist /r/okbuddychicanery-Sprache für: “Dumm von uns, zu glauben, wir könnten bescheuertere Ideen haben als die Better Call Saul-Autoren selbst.”
Better Call Saul ist ein Meilenstein von einer Serie. Nicht nur, weil sie über sechs Staffeln grandiose Geschichten erzählt hat. Sondern auch, weil sie mit absurdesten Troll-Aktionen konfrontiert war, und diese mit offenen Armen empfangen hat. Ich schätze, das ist die Popkultur der Zukunft. Absurder, bescheuerter, lustiger… Und manchmal sogar besser.
Außerdem
How normal am I? hownormalami.eu
“I want your instagram account”. businessinsider.com
We weren’t meant to see this many beautiful faces. theface.com
We’ve reached emoji overload. inputmag.com
How Netflix plans to find its inner ‘Star Wars’. reuters.com
Youth culture is entering its flat age future. thefuturelaboratory.com
Infinite Images and the latent camera. mirror.xyz/herndondryhurst.eth
Inside TikTok's Attempts to ‘Downplay the China Association’. gizmodo.com
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