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Authentizität ist tot. Was suchen wir stattdessen?

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Authentizität ist tot. Was suchen wir stattdessen?

How do you do, fellow kids?

Gregor Schmalzried
Oct 20, 2022
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Authentizität ist tot. Was suchen wir stattdessen?

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du liest cool genug — einen newsletter über digitale popkultur.

war der traum der creator economy immer nur eine illusion? gibt es noch einen weg für nischeninhalte jenseits eines immer dominanter werdenden mainstreams? wenn dich das interessiert, lies die aktuelle ausgabe meiner brand eins-kolumne!


Authentizität.

generiert mit Midjourney

I. Die Prognose

In seinem Science Fiction-Roman The Circle aus dem Jahr 2013 beschreibt Schriftsteller Dave Eggers einen omnipotenten und ultrabösen Internetkonzern namens The Circle — ein aus Facebook, Google und anderen Social Media-Unternehmen zusammengewachsenes Monstrum, das quasi alle menschliche Kommunikation kontrolliert.

Mae, die junge Heldin des Romans, steigt bei The Circle als junge Angestellte ein und wird im Laufe der Geschichte von den Glaubenssätzen des Unternehmens vereinnahmt, bis sie schließlich sogar den reuevollen Gründer, der das Unternehmen mittlerweile zerstören möchte, an die Bösen ausliefert. Am Ende ist Mae ganz davon überzeugt, dass jede menschliche Kommunikation, jedes Handeln und jeder Atemzug, öffentlich und für alle einsehbar sein sollte.

Dave Eggers’ Buch wurde in der Zeit nach seinem Erscheinen viel diskutiert (unter anderem in einer mittelspannenden Vorlesung in meinem Studium). Eggers schrieb das Buch zu einem wichtigen Zeitpunkt: Es war bereits nach der ersten großen Social Media-Welle, in der jungen Menschen pausenlos eingebläut wurde, ja keine Party-Fotos auf Facebook zu posten, weil man sonst später keinen Job mehr bekommen könnte. Und es war noch vor dem großen Aufblühen des Influencer-Marketings und der “Creator Economy”.

An diesem Scheitelpunkt der Internet-Geschichte wurde ein Wort auf ein Podest gehoben, das den Diskurs über die sozialen Medien jahrelang prägte: Authentizität.

Alle diese großen Internet-Phänomene — das unbedarfte Posten privater Details, das Erstarken von “authentischen” Internet-Persönlichkeiten als neue Werbegesichter und dazwischen Dave Eggers’ Angst vor einem totalitäten Überwachungskapitalismus, in dem jeder sich permanent der ganzen Welt zeigen muss, drehen sich rund um diesen Begriff.

In den Jahren nach Eggers’ Buch wurde “Authentizität” zu einem großen Trendthema. Erfolgreich wurde Donald Trumps wüster, oft menschenverachtender, aber eindeutig authentischer Twitter-Stil. Die Versuche etablierter Marken, sich an virale Memes und Trends dranzuhängen wurden aber ausgelacht. Jahrelang war Twitter voll mit Brand-Accounts, die versuchten, Müsliriegel und Flugreisen mit Memes zu verkaufen… Die gängige Reaktion darauf: “Cringe”. Das Phänomen bekam sogar sein eigenes Meme: Das “Fellow Kids”-Bild mit Steve Buscemi, einem Mann, der nicht jung ist (und es vermutlich nie war), aber so tut als ob.

Lead article image

Wenn man im Jahr 2015 einen oberflächlichen Screenshot der Social Media-Landschaft gemacht und dann überlegt hätte, was wohl als nächstes passiert, hätte man relativ leicht zu einem Schluss kommen können: Brands auf Social Media machen wenig Sinn. Denn wenn 90 Prozent der Millenials authentische Brands wollen, wie kann ein Supermarkt je authentisch über Quatschthemen twittern?

Der Zeitgeist schien zu prognostizieren: Brands werden aus Social Media verschwinden — und durch Persönlichkeiten und Influencer ersetzt werden.

Oder?

ODER?

Natürlich ist das Gegenteil passiert.

II. Das Gegenteil

Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich bei einem willkürlichen TikTok durch die Kommentare gescrollt habe und Rewe hatte darunter kommentiert. Genau, Rewe, der Supermarkt. Und das nicht, um im Kommentar irgendwie direkt Werbung zu machen. Es war ein stinknormaler Kommentar wie jeder andere — und er wurde von allen anderen auch genauso wahrgenommen. User antworteten auf den Rewe-Kommentar genau wie auf den Kommentar von irgendeinem Max S zwei Zeilen drüber, einer schrieb “so wahr bruder”.

Twitter avatar for @tiktoktactics
Understanding TikTok @tiktoktactics
Kaufland vm.tiktok.com/ZMeqXMRFA/
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7:13 AM ∙ May 7, 2021

Ist so etwas irgendwie authentisch? Natürlich nicht. Niemand hält es für ein authentisches Verhalten von Rewe, Kaufland oder Ryanair, random Teenagern Props in die Kommentare zu posten. Aber die junge Generation akzeptiert es trotzdem.

Auf Brand Twitter ist es exakt dasselbe Spiel. Wir leben mittlerweile in einer Welt, in der SpongeBob Schwammkopf “Eid Mubarak” wünscht und Dr Oetker Pizza andere Twitter-User beleidigt. Und das ist nicht weird. Es ist normal. Leute interagieren mittlerweile online mit Brands oft ganz ohne ironisch-postmoderne Distanzierung.

Lustig wird es, wenn Leute (insbesondere Millenials) das noch nicht verstanden haben.

Die zwei erfolgreichsten deutschen Politiker auf TikTok sind Thomas Sattelberger und Wolfgang Heubisch, beide über 70, beide in der FDP — beide völlig schamlos im Nachmachen von viralen Sounds und Trends, von denen sie ohne ihr Team garantiert nie erfahren hätten.

Twitter avatar for @miguelrausa
Miguel Robitzky @miguelrausa
Die FDP führt einen harten Wahlkampf
7:59 AM ∙ Jun 10, 2021
774Likes25Retweets

Jedes Mal, wenn eines dieser Videos auf Twitter verbreitet wird, posten Leute das “Fellow Kids”-Meme in die Drukos (in dem hier verlinkten Beispiel zweimal). Was die Kommentierer nicht verstehen: Sie selbst sind die aus der Zeit gefallenen. Wolfgang Heubisch (bzw sein Social Media-Team) hat den Zeitgeist genau verstanden.

III. Authentizität ist tot

Das alles deutet auch an, dass das Buch The Circle irre schlecht gealtert ist. Eine Zukunft, in der wir uns alle 24/7 live-streamen, um der Öffentlichkeit ein perfektes authentisch-kohärentes Bild präsentieren zu können, ist das Gegenteil von dem, was sich gerade wirklich entwickelt:

Eine Zukunft, in der Identität im Internet immer modularer und flexibler wird.

Weltweit wächst das Interesse an digitaler “Pseudonymität”. Anders als Anonymität ist es bei der Pseudonymität möglich, eine klare Identität aufzubauen — nur eben ohne dabei “analoge” Details zu verraten. Eine Menge einflussreiche Figuren der Social Media-Gegenwart (der Machine Learning-Blogger roon, der Twitter-Poet dril, der Web3-Investor punk6529) agieren online hauptsächlich unter ihrem selbstgewählten Pseudonym. Auf Außenstehende wirkt das oft erst einmal absurd. Sie machen es trotzdem.

Natürlich kann Pseudonymität auch eine Schutzmaßnahme sein, gerade für Menschen, die sonst Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt wären.

Zunehmend wird Pseudonymität aber auch proaktiv zur Selbstinszenierung genutzt — und das sogar, wenn die eigentliche Identität der Person dahinter bekannt ist. Die Person hinter dril wurde bereits vor Jahren enthüllt und “dream”, einer der erfolgreichsten Streamer der Welt, hat vor zwei Wochen seine bekannte Maske freiwillig abgenommen. Beide nutzen weiterhin ihre Online-Personas, sowohl in ihrem Content als auch in ihren Profilbildern. Es ist kein entweder oder. Es ist ein sowohl als auch.

Das Interessante an dieser neuen Form des digitalen Auftretens ist, dass es Raum für mehrere Identitäten gleichzeitig lässt.

Wie in einer Art unendlichen Variante der “Dolly Parton”-Challenge lassen sich heute mehrere digitale Identitäten parallel bespielen — ohne, dass irgendjemand ein Problem damit hätte. Ein und dieselbe Person kann auf Twitter mit random Leuten streiten und gleichzeitig über Investorengelder verhandeln, ein und dieselbe Marke kann Fußballvereine sponsoren und gleichzeitig unter TikToks kommentieren. Authentisch ist nichts daran. Aber das wird auch nicht verlangt.

Wie erfolgreich solche unauthentischen Auftritte im Extremfall sein können, zeigt sich an komplett virtuellen Influencern (glücklicherweise habe ich über die erst vor ein paar Wochen einen ausführlichen Text geschrieben), sowie an realen Influencern, deren Reiz vor allem daraus besteht, dass sie so virtuell wie möglich wirken (siehe Poppy oder Bella Poarch) und an Aktionen wie der Abba-Voyage-Konzertreihe, in der ehemalige Popstars ihre physischen Körper einfach ganz hinter sich lassen und direkt als digital generierte Hologramme auftreten.

In einer Welt, in der wir unsere Identität im Internet frei konstruieren können, macht das Konzept “Authentizität” keinen Sinn mehr. Oder in den Worten des Rappers Fatoni: “Scheiß auf Authentizität, ich will einfach nur ich selbst sein.”

IV. Was suchen wir stattdessen?

All das wirft die Frage auf: Wo sind wir abgebogen? Wann wurde aus der The Circle-Zukunft von Dave Eggers die modulare Zukunft der Gegenwart, in der wir vorgebliche Authentizität gegen Performance und Selbstdarstellung eingetauscht haben?

Die Antwort ist: Schon bevor Eggers sein Buch überhaupt geschrieben hat.

The Circle ist, wie sehr viele Werke über das Internet von vor 2015, nicht sehr gut beobachtet. In gewisser Weise ist es nicht einmal veraltet, einfach weil es nie aktuell war. Eggers’ Vorstellung von einem hypertransparenten Social Media-Kapitalismus war schon immer genauso verkehrt wie die Geschichte, dass wir im Internet auf der Suche nach Authentizität sind.

In Wahrheit waren wir nie auf der Suche nach Authentizät.

Wir waren immer auf der Suche nach Nähe.

Und Nähe finden wir nicht nur bei authentischen echten Menschen. Wir finden sie zunehmend auch bei fiktionalen Charakteren, bei einstudierten Song-Covern und bei virtuellen Avaters.

Nähe, und die damit eng verbundene Qualität Relatability ist das, was all die Jahre im Netz funktioniert hat. Sie hat Influencer reich und Politiker sympathisch gemacht. Und sie wird in unserer gnadenlos einsam machenden Gesellschaft immer wichtiger.

Sie ist auch der Grund, warum BeReal nach wie vor die spannendste Social Media-App zur Zeit ist. Als Sascha Lobo kürzlich BeReal als “großen Haufen Schrott” bezeichnet hat, hat er das hauptsächlich damit begründet, dass die angebliche Authentizität auf der App “total überschätzter Quatsch” sei.

Er hat nur leider — wie viele — die App nicht wirklich verstanden. Der Reiz an BeReal ist nicht die Authentizität. BeReal ist eine Selbstinszenierungs-Speed-Challenge (Credit an Claire, von der die Formulierung kommt), die sozialen Kontakt zu Freunden und Bekannten ermöglicht, ohne dass man sich nach dem Öffnen wie ein Versager und Zeitverschwender fühlt. Denn das “Real” in BeReal bedeutet nicht “authentisch”. Es bedeutet unbedarft, direkt, einfach. BeReal ist die einzige App, auf der es sich nicht wie Arbeit anfühlt, öffentlich mit anderen Leuten zu kommunizieren.

Ich wage ganz sicher keine Prognose, dass BeReal in fünf Jahren noch eine relevante App sein wird. Aber die Faktoren, die BeReals Erfolg heute kennzeichnen, werden auch in fünf Jahren noch relevant sein.

Eine Zukunftsvision mit BeReal wäre zumindest um einiges einleuchtender als eine Zukunftsvision mit The Circle.


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Außerdem

Content

  • Das Long Tail-Paradox. brandeins.de

  • SNL did a BeReal sketch. twitter.com

  • The Hottest App Right Now? One Where Teens Have to Say Nice Things About Each Other. wsj.com

  • After the newsletter boom. therebooting.substack.com

  • 1994: Are YOU Ready for the INTERNET? youtube.com

  • Sniffing out Jeremy Fragrance. dirt.substack.com

  • How celebrities should do TikTok. gawker.com

Menschen und Maschinen

  • Per Algorithmus ins Parlament: Dänemarks neue KI-Partei. br.de

  • The Real Name Fallacy. coralproject.net

  • Cybersickness Could Spell an Early Death for the Metaverse. thedailybeast.com

  • Why the French Renaissance is about to conquer the world. maried.substack.com

Fandom

  • I'm losing my friends to Taylor Swift conspiracies. embedded.substack.com

  • The Blackpink Fans Looking to Outfox YouTube. vulture.com

  • The Rise and Fall of Bitcoin Culture. coindesk.com

Dystopia

  • TikTok schränkt Meinungsfreiheit ein. tagesschau.de

  • Contrepreneurs: The Mikkelsen Twins. youtube.com

  • How TikTok ate the internet. washingtonpost.com

  • IckTok. dirt.substack.com

  • On Mr. Beast And Being Alone In A Circle For 100 Days. coldhealing.substack.com

  • The Role of Alternative Social Media in the News and Information Environment. pewresearch.org


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